Holger Stein | Credit: Peter Fengler

25.08.2023

Holger Stein: Die Branche braucht einen bundesweit einheitlichen Tarifvertrag

Wie dem Nachwuchsmangel begegnen, Ausbildungsalternativen erkennen und eine mögliche Tarifhoheit auf Bundesebene. Der neue Hauptgeschäftsführer des Zentralverbandes des deutschen Friseurhandwerks hat viel vor …

Holger Stein, Hauptgeschäftsführer des Zentralverbands des deutschen Friseurhandwerks, im Gespräch mit Raphaela Kirschnick

Herzlichen Glückwunsch zur neuen Aufgabe. Das Friseurhandwerk hält für Sie einige große Herausforderungen bereit, gewappnet?
Holger Stein
: Jeden Tag ein bisschen mehr. Die Branche ist angeschlagen und es gibt viel zu tun, ich bin motiviert, führe täglich viele Gespräche und der gesamte Verband ist motiviert Zeichen zu setzen.

Nachwuchsmangel und Ausbildung sind relevante Themen. Uns liegen ernüchternde Statistiken vor zu den Ausbildungsvergütungen, die im Friseurhandwerk die mit Abstand schlechtbezahltesten Lehrberufe sind, vor allem im Osten. Sollte der ZV hier nicht eingreifen?
HS
: Grundsätzlich gibt es zwei Vertragspartner, die über Tariflöhne verhandeln, das sind die jeweiligen Landesinnungsverbände auf Arbeitgeberseite und ver.di auf Arbeitnehmerseite. Leider gibt es Bundesländer, in denen keine Verbände existent sind, mal auf Landes- mal auf ver.di Ebene. Gerade im Osten ist unsere Verbandsstruktur nur noch teilweise intakt.

Was passiert dann vor Ort?
HS
: Nehmen wir Thüringen. Dort gibt es keinen Vertragspartner seitens ver.di, den man aber bräuchte, um überhaupt in Verhandlungen zu gehen. Der dort bestehende Tarifvertrag aus dem Jahr 2018 bildet aus meiner Sicht die aktuellen Entwicklungen nicht mehr ab.

Was bedeutet das für die 1.500 Friseurbetriebe in Thüringen?
HS:
Tarifverträge ohne Allgemeinverbindlichkeit gelten zunächst nur für tarifgebundene Arbeitsverhältnisse (Innungsmitglieder und Mitglieder der Gewerkschaft). Auf Basis der Mitgliedszahlen lässt sich in Thüringen keine Allgemeinverbindlichkeit mehr für Tarifverträge herstellen. Leider verfügen wir über keine verlässlichen Ausbildungszahlen. Die Zahl der Ausbildungsverhältnisse, die vom aktuellen Tarifvertrag betroffen sind, wird aber keine signifikante Auswirkung auf die im Durchschnitt gezahlten Ausbildungsvergütung in Thüringen haben. Grundsätzlich sind aber alle Betriebe bei einem nicht allgemeinverbindlichen Tarifvertrag an den gesetzlichen Mindestlohn gebunden.

Wer kontrolliert das?
HS:
Jeder Ausbildungsbetrieb muss seinen Ausbildungsvertrag bei der Handwerkskammer vor Ort eintragen, dort wird dieser auf Rechtmäßigkeit geprüft.

Die Azubientgelte liegen weit unter dem gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn, wie kann das sein? Ist es nicht im Interesse des Zentralverbandes hier einzugreifen?
HS:
Thüringen ist in den Statistiken ein deutlicher Ausreißer. Wir führen darüber auch bereits Gespräche mit dem Landesverband, wie man das in Thüringen entwickeln kann.

„Manchmal muss man sich von alten Zöpfen trennen. Das eröffnet neue Perspektiven und neue Möglichkeiten.“

Ist das denn nicht auch im Interesse der Landesverbände?
HS:
Wir kämpfen mit einem deutlichen Mitgliederrückgang. Es wird für viele Landesverbände immer schwieriger als Tarifpartner eine zukunftsorientierte Tarifpolitik zu betreiben, da es an Mitgliedern zur Erreichung der Allgemeinverbindlichkeit mangelt. Es besteht hier durchaus die Sorge, dass man bestehende Mitgliedschaften durch eine zu progressive Tarifpolitik verliert.

Ich sehe hier aber eher eine Chance. Manchmal muss man sich von alten Zöpfen trennen. Das eröffnet neue Perspektiven und neue Möglichkeiten. Ein Tarifvertrag der bei 50% der gesetzlichen Mindestausbildungsvergütung liegt, ist eine mediale Steilvorlage. Daran müssen wir gemeinsam arbeiten.

 „Definitiv raus müssen wir aber, alle Nase lang als Schlusslicht durch den medialen Kakao gezogen zu werden.“

Jüngste Umfragen zeigen immer wieder, dass die geringe Verdienstmöglichkeit im Friseurhandwerk der Grund ist, weshalb man einen anderen Beruf wählt. Was muss getan werden, dass sich hier etwas ändert?
HS:
Es gibt viele Faktoren, die ausschlaggebend für das Image sind. Es gibt Handwerksberufe, die tariflich deutlich über dem Friseurhandwerk liegen und mit den gleichen Problemen kämpfen.
Definitiv raus müssen wir aber, alle Nase lang als Schlusslicht durch den medialen Kakao gezogen zu werden. Bundesweit haben wir die Aufgabe mit allen Verbänden eine Tarifstrategie zu entwickeln, die dann auch das Branchen-Image positiv unterstützt.

„Wünschenswert wäre für mich ein bundesweit einheitlicher und allgemeinverbindlicher Tarifvertrag.“

„Tarifstrategie entwickeln“ klingt gut aber nach langem Prozess. Was glauben sie, wie schnell sie da etwas bewirken können?
HS:
Wir werden in Kürze Gespräche mit den Vertragspartnern auf beiden Seiten führen. Das gilt im Entgeltbereich für Arbeitnehmer als auch für Auszubildende. Dadurch, dass das Gros der Tarifverträge keine Allgemeinverbindlichkeit hat, handelt es sich um eine politische Empfehlungsstrategie, denn es greift nur für einen Teil der Unternehmen. Alle Nichtmitglieder sind dann wieder außen vor. Wünschenswert wäre für mich ein bundesweit einheitlicher und allgemeinverbindlicher Tarifvertrag.

Ist das überhaupt möglich?
HS:
Dazu braucht es eine Tarifgemeinschaft, denn selbst wenn man alle Verbände an einen Tisch und auf einen gemeinsamen Nenner bekäme, würde das nicht mehr ausreichen, um einen einheitlichen Bundestarifvertrag, der dann auch noch allgemeinverbindlich ist zu bewerkstelligen.
Um hier wirklich voranzukommen müssten die einzelnen Verbände ihre Tarifhoheit an eine Tarifkommission übertragen. Diese setzt sich z.B. aus den Landesverbänden und dem Zentralverband und möglichen weiteren Partnern zusammen. Gemeinsam verhandelt man mit dem Gewerkschaftspartner ver.di auf Bundesebene. So hätten wir eventuell eine Chance, dass auch eine angestrebte Allgemeinverbindlichkeit erreicht werden kann. Das ist eine Mammutaufgabe.

Gibt es Branchen, die eine bundesweite Tarifhoheit haben?
HS:
Ja, jede Menge. Von Dachdeckern, Tischlern bis zu den Malern gibt es sehr viele Handwerke mit bundesweiter Tarifhoheit.

Wie viele Mitglieder hat der Zentralverband im Moment aktuell?
HS: Um die 12.000.

Gibt es denn einen branchenspezifischen Einfluss auf den Rückgang der Azubis?
HS: Grundsätzlich hat das gesamte Handwerk fast 28% Azubis verloren und es gibt nur vereinzelte Ausnahmen. Es gibt zahlreiche Ausbildungsberufe, die unser Schicksal in der Massivität teilen. Was alle gemeinsam haben ist eine enorme Fallhöhe, denn in guten Zeiten, wie 2008, als wir 40.000 Azubis hatten, wurde offensichtlich überproportional ausgebildet.

Und wo sind diese?
HS:
Auch diese Frage stellen wir uns. Abbrecherquoten allein können das nicht sein. Leider gibt es wenig Zahlen darüber, wie viele denn dann wirklich in den Markt gekommen sind. Aber selbst, wenn man in diesen Jahren von knapp 25.000 Menschen jährlich spricht, die ins Handwerk geflossen sind, die müssen ja irgendwo noch existieren.

„Der Niedergang liegt grundsätzlich nicht an mangelndem Interesse seitens der Ausbildungsbetriebe“

Was sagen die einzelnen Verbände dazu?
HS:
Der Niedergang liegt grundsätzlich nicht am mangelnden Interesse seitens der Ausbildungsbetriebe, denn wir haben genügend offene Ausbildungsstellen. Von unseren Mitgliedsbetrieben erhalten wir die Rückmeldungen, dass sie in diesem Jahr keine Bewerbungen erhalten haben oder mehr ausbilden würden, wenn sie noch Azubis fänden.
Weshalb das so ist? Demografischer Wandel, Image, Geld, es sind viele Faktoren.

Eine aktuelle Studie listet als zweiten Grund gegen den Friseurberuf auf, dass man keine Lust auf den Umgang mit schwierigen Menschen hat. Ein Generationenthema?
HS:
Die Anforderungen und Wünsche der Generation Z unterscheiden sich anscheinend maßgeblich von denen, die wir bei den Saloninhabern vorfinden.  Diese Kluft ist auch Chance. Das Friseurhandwerk hat in der Vergangenheit bewiesen, dass es anpassungsfähig ist. Diesen Vorteil gegenüber anderen Branchen sollten wir nutzen.  Das Potential des Friseurhandwerks in der Zukunft ist enorm. Es ist ein krisensicherer Beruf, wenn wir es gemeinsam schaffen, die Branche wirtschaftlich stabiler und attraktiver für Fachkräfte und den Nachwuchs zu gestalten. Die Zahlen belegen, dass es hier einen unternehmerischen Nachholbedarf gibt.

„Ausbildungsleistung des Friseurhandwerks ist ein maßgeblicher Aspekt, der uns viel Gehör auch bei der Politik verschaffen kann.“

Der Ruf nach einer Unterstützungsmaßnahmen für Ausbildungsbetriebe wird immer lauter, gibt es hier bereits Gespräche mit Handwerkskammer oder Politik?
HS:
Die Ausbildungsleistung des Friseurhandwerks ist ein maßgeblicher Aspekt, der uns viel Gehör auch bei der Politik verschaffen kann. Ausbildungsprämien sind meist Einmalzahlungen und damit nur kleine Hilfsunterstützungen. Grundsätzlich setzen wir uns für steuerlichen Entlastungen, insbesondere für Ausbildungsbetriebe, ein. Aktuell prüfen wir auch Sozialkassenmodelle, die die betriebliche Ausbildungsleistung unterstützen. Solche existieren bereits in anderen Gewerken. Wenn wir allerdings hier etwas bewirken wollen, müssen wir mit einem gemeinschaftlichen Antrag bei der Politik anklopfen.

Gibt es denn bereits einen Austausch auf bundespolitischer Ebene?
HS:
Ja, es gibt einige Forderungen auch ähnliche von anderen Gewerken, die teilweise in ähnlichen Notlagen stecken. Egal jedoch, ob sie mit Herrn Habeck oder Herrn Lindner kommunizieren, die allgemeine Message aus den Ministerien ist, dass die Kassen leer sind.

Gibt es andere Hebel?
HS:
Wir beobachten eine sehr monothematische Ausrichtung auf Bundesebene. Heißt, es wird alles getan für die Aus- und Weiterbildung von Menschen in Klimatechnik, etc. Klimaschutz und Klimawandel sind dieTop- Themen und man nimmt sich dort unserer Sorgen erst gar nicht an. Das ist wirklich ein Problem.

Das Duale System wird häufig kritisiert, es gibt Forderungen nach Alternativen, verkürzter Lehrzeit oder Spezialisierungsangeboten. Was ist hierzu ihre Meinung?
HS:
Der Weg wird an der Dualen Ausbildung für die Mehrzahl an Nachwuchskräften nicht vorbeiführen. Das beginnt bereits beim rechtlichen Rahmen des Berufsbildungsgesetzes und der Handwerksordnung. Bewusst provokativ sage ich, das Berufsbildungsgesetz zu kippen, ist unmöglich.

Welche ergänzenden Lösungsansätze gibt es denn dann?
HS
: Ich glaube fest an das Ausbildungssystem und seine Möglichkeiten. Ich bin auch überzeugt, dass viele Unterstützungen und Möglichkeiten im Markt nicht bekannt sind und richtig ausgeschöpft werden.

Welche zum Beispiel?
HS:
Das fängt an bei bestehenden Unterstützungsleistungen für Azubis, also Bafög, Wohngeld, Mobilitätszuschuss, etc.. Hier arbeiten wir an Antragsunterstützungsleistungen, um die Inanspruchnahme für alle einfacher und transparenter zu machen.
Verkürzungsmöglichkeiten gibt es bereits, je nachdem mit welcher Vorqualifizierung junge Menschen in den Beruf kommen. Auch entsprechend talentierte Azubis können mit dem Ausbildungsbetrieb bei der Kamer eine talentbezogene Verkürzung. Abiturienten können auf 18 Monate kürzen.

„Andere Wege in die Berufspraxis gibt es längst. Hier unterscheide ich bewusst und trennscharf zur Ausbildung.“

Es gibt laute Forderungen nach Alternativen zur Dualen Ausbildung. Gibt es hierzu bereits Überlegungen?
HS: Andere Wege in die Berufspraxis gibt es längst. Hier unterscheide ich bewusst und trennscharf zur Ausbildung. Qualifizierungen zum Einstieg in die Berufspraxis gibt es viele, ob durch Fachakademien, Industrie oder andere Privatschulen. Es steht jedem Unternehmer frei, jemanden ohne staatlich anerkanntes Zertifikat, also ohne abgeschlossene Friseurausbildung, anzustellen, wenn er im Auge des Unternehmers die entsprechenden handwerklichen Fähigkeiten mitbringt.
Das einzige, was diesen Menschen im Prinzip verwehrt ist, ist zunächst die zukünftige Weiterentwicklung mit Blick auf Meister und Selbstständigkeit.

Und das bleibt gesichert?
SH
: Absolut, das regelt weiterhin die AnlageA, dem Verzeichnis der Gewerbe, die als zulassungspflichtige Handwerke betrieben werden können. Das Friseurhandwerk darf nicht zulassungsfrei werden. Der Weg über die Qualifizierung ist eine Option, die meiner Meinung nach in der aktuellen Situation gewisse Vorteile bietet. Insbesondere für bestimmte Zielgruppen wie z.B.
Quereinsteiger.

Welche?
HS:
Es gibt bereits Gespräche mit unseren Partnern, dass es Formen schnellerer Wege in die Berufspraxis geben kann, insbesondere mit Zielrichtung auf Menschen, die vielleicht schon eine gewisse schulische Vorbildung haben. Auch für Quereinsteiger, die sagen, ok Studium war nichts für mich bieten sich hier Möglichkeiten.
Wichtig bleibt, dass der Mensch, der diesen Weg geht, immer die Möglichkeit hat, sich noch staatlich zertifizieren zu können.
Wenn ein junger und motivierter Mensch erst mal Spass am Beruf gefunden hat, ist der Weg zur staatlichen Anerkennung so viel leichter, und eine großartige Option und Investition in die eigene berufliche Zukunft und in die Zukunft der Branche.

Vielen Dank lieber Herr Stein für das offene Gespräch und breitgefächerte Ausführungen.