Friseur Eberhard Nitze im Interview: Wenn man wegen westlicher Haarfarbe in der Stasi-Akte steht | Foto: privat

03.10.2020

Eberhard Nitze: Wenn man wegen westlicher Haarfarbe in der Stasi-Akte steht

Erberhard Nitze führte 27 Friseursalons vom Sozialismus in die freie Marktwirtschaft. Unser Interview zu 30 Jahre Wiedervereinigung fördert Vergangenes und Amüsantes aus der Friseurwelt zutage.

Eberhard Nitze aus Brandenburg an der Havel, der mit 82 Jahren-den Diamantenen Meisterbrief entgegennimmt, hat eine Menge erlebt und in seinem Fall auch mitbewegt. Denn als Vorsitzender der Produktionsgenossenschaft PGH „Neue Linie“ in Brandenburg, führte er das Unternehmen vom Sozialismus in die Freie Marktwirtschaft und ist u.a. Mitbegründer des Verbandes Deutscher Friseurunternehmen e.V.. Ein Gespräch über Vergangenes, über Wendegewinner und Blockparteien, Millionen und Pleiten.

Im Telefonat mit Katja Ottiger

Herr Nitze, 30 Jahre Friseurleidenschaft in der DDR – wie war das?
EN:
Uns Friseuren in der damaligen DDR ging es sehr gut, es war ein anerkannter Beruf, das Handwerk hatte goldenen Boden. Die Dienstleistungen waren staatlich gesteuert und preislich überall gleich, deshalb konnten sich alle den Friseur leisten. Es gab nur minimale Preisunterschiede. Da kostete der Façonhaarschnitt in kleineren Orten 1 Mark und in größeren vielleicht 1,30 Mark. Egal ob in einer Genossenschaftoder in einem privaten Geschäft.

„Dienstleitungspreise waren überall gleich.“

Was war der Vorteil privater Unternehmer in der DDR zu sein?
EN:
Ein Selbstständiger konnte selbst entscheiden, z.B. über seine Öffnungszeiten. Im Privathandwerk war es meistens so, dass der Mitarbeiter einen Fixlohn bekam, während die Mitarbeiter Der PGHs im Angestelltenverhältnis mit einer Mehrleistungsvereinbarung waren, d.h. wenn die Vorgaben erfüllt wurden, verdiente der Mitarbeiter entsprechend mehr. Die Genossenschaften hatten ein höheres Leistungsvolumen, weil jeder mit seinem Fleiß mehr verdienen konnte.

Wie wichtig war Umsatz in der DDR?
EN:
Natürlich war der wichtig, denn wir haben von diesem Erlös gelebt. Es gab eine Regel: Egal wie viele Geschäfte in einer Genossenschaft waren, ob 2 oder 20, der Umsatz musste stimmen. Das Gehalt wurde für den Chef festgelegt. Der war gedeckelt.

„Das Gehalt des Chefs war gedeckelt.“

Wer legte das Gehalt vom Chef denn fest?
EN:
In meinem Fall war das so: Ich bekam am Anfang des Jahres einen Brief vom Oberbürgermeister, in dem er mir mitteilte, wieviel ich in diesem Jahr monatlich verdienen werde. Der legte dann beispielsweise 1.600 Mark fest und meine Mitarbeiter verdienten dann entsprechend weniger.

Drängten äußere, politische Umstände private Handwerker in die Genossenschaften?
EN:
Nein, das ist eine Mär. Viele kamen zu uns, weil bei uns gut bezahlt wurde. Nicht wenige unserer Mitarbeiter hatten in einem Privatgeschäft gelernt, sich dann aber für die PGH entschieden. Auch den ein oder anderen Selbstständigen gab es, der aus wirtschaftlichen oder persönlichen Gründen den Weg zur Genossenschaft suchte.

Spielte in Ihrer Karriere die SED eine Rolle?
EN
: Für mich persönlich nicht, ich war nicht Mitglied der SED. Ich war in einer der sogenannten Blockparteien, wie übrigens viele Handwerker. Das waren die kleineren Parteien, wie die Bauernpartei, die Christlich Demokratische Union oder die National-Demokratische Partei Deutschlands. Die Modekommission war immer mit einem aus der Blockpartei besetzt!

In Friseursalons wird und wurde immer schon viel getratscht, das musste ja für die Staatssicherheit toll gewesen sein.
EN: Ich hatte bei 350 Mitarbeitern gelegentlich Kontakt mit der Stasi. Bei so vielen Mitarbeitern stellte schon mal jemand einen Reiseantrag oder Familien wurden durchgecheckt, wenn Kinder z.B. in den Sportkader aufgenommen werden sollten.

„Weil ich westliche Haarfarbe verwenden wollte, durfte ich an der nächsten Meisterschaft nicht teilnehmen – das stand auch in meiner Stasi-Akte.“

Und gab es auch persönliche Erfahrungen?
EN:
In Budapest, bei einer Fachveranstaltung um den „Pokal der Freundschaft“ hatte ich am Wella Stand nach einer roten Haarfarbe für mein Modell gefragt, denn ich hatte gehört, die soll besonders gut sein.
Kurz darauf wurde ich aus Potsdam angerufen mit der Order, umgehend nach Hause zu kommen. Weil ich Westfarbe verwenden wollte, durfte ich an der nächsten Meisterschaft nicht teilnehmen. Das hat Ärger gemacht, auch für meine Mitarbeiter, die bei Meisterschaften mitmachen wollten. Die Geschichte konnte ich später noch in meiner Stasi-Akte nachlesen, die ich 1992 aus der Gauck-Behörde geholt hatte.

Wer waren denn die Friseur - Stars der DDR?
EN:
Da fällt mir Michael Umlauf in Berlin ein (Michael Umlauf GmbH, Anm.), der nach der Wende dann 40 Geschäfte hatte und eine Schule, in der er selbst unterrichtete. Oder Rolf Fischer aus Leipzig, der später dann auch Geschäfte im Westen betrieb. Auch in der "Neuen Linie" gab es DDR- und Deutsche Meister. Z.B. Gertrud Kupko und Hans-Joachim Titsche.

Die PGH „Neue Linie“ wurde 1991 unter Ihrer Geschäftsführung in „Neue Linie Friseur & Kosmetik GmbH Brandenburg“ umgewandelt und ist eine der wenigen, die die Nachwendezeit überlebt hat. Was denken Sie, begründet den Erfolg?
EN: Das kann man auf einen Nenner setzen: Qualifikation. Wir haben von Anfang an auf Weiterbildung und stabile Berufsausbildung gesetzt. Bis zu meiner Übergabe der „Neue Linie“ - Geschäfte 2003 (heute geleitet von Brita Meißner, Anm.) haben wir durchschnittlich 7-12 Lehrlinge pro Jahr ausgebildet, von denen viele im Unternehmen geblieben sind und auch heute noch bleiben.
Wir bildeten 45 Mitarbeiter zu Friseur- und Kosmetikmeistern aus und besetzten unsere Filialen häufig mit mehreren Meistern.

„Weiterbildung war in der DDR ein großes Thema.“

Wurde Weiterbildung in der DDR gefördert?
EN:
Das war ein ganz großes Thema. Wir hatten einen Fond, der ausschließlich für Weiterbildung genutzt wurde. Wir haben immer an den DDR-Meisterschaften teilgenommen, nach der Wende dann an den deutschen Meisterschaften. Unter unseren Mitgliedern waren immer Gewinner und die Genossenschaften haben alles finanziert, die Reisekosten, die Startgebühren …

Sie haben auch preisfrisiert?
EN:
Ja! 1963 gewann ich u.a. die Goldmedaille in der A-Klasse, es waren die DDR Meisterschaften in Erfurt.

Nach der Wende: Wie war ihr erstes Zusammentreffen mit Kollegen und Kolleginnen aus dem westlichen Deutschland?
EN
: Fantastisch! Ich bekam kurz nach der Wiedervereinigung einen Anruf von Hans Buschmann, dem Obermeister Westberlins. Ich habe ihn zu uns nach Brandenburg ins schönste Hotel eingeladen. Wir lernten uns kennen und beschlossen, zusammen zu arbeiten. Denn mir war sofort klar: Du musst in Verbänden am Ball bleiben! Z. B. mit der Gründung des Landesinnungsverbandes der Friseure Brandenburg. 1993 gründeten wir dann den Verband Deutscher Friseurunternehmen e.V., deren Gründungspräsident ich wurde (www.vdf-ev.de), und den es ja heute noch gibt und dem damals schon wichtige Friseure auch aus dem Westen angehörten, wie Herr Blatter in München, Herr Thonet aus Trier, die Klier Brüder, Herr Prof. Siegert von Essanelle und RA Herr Kötter.

Eberhard Nitze auf einer Tagung der Handwerkskammer Potsdam 1990 | Foto: privat

1990 wurden die neuen Regelungen zur Handwerksordnung Ostdeutschlands neu festgelegt, auch hier haben Sie sich eingebracht. Was waren damals die wichtigsten Punkte für Sie?
EN:
Zunächst einmal, dass definiert wurde, was ein Handwerksberuf ist. Es gab das Problem mit den Kosmetikern. In der ehemaligen DDR war der Kosmetiker ein Vollberuf, mit 3-jähriger Lehrzeit und einer möglichen Meisterqualifikation.
Und eine weitere Aufgabe war es, das Handwerk aus der staatlichen Kontrolle zu nehmen. Zur Handwerksordnung gab es eine Anlage A, wo die Berufe aufgeführt sind, die eine Meisterqualifikation benötigten. In der Anlage B wurden alle handwerksähnlichen Gewerke festgeschrieben, hierfür wurde keine Meisterprüfung benötigt. Die Innungen haben sich sehr bemühen müssen. In der Handwerkskammer sind alle, da brauchte es eine neue Ordnung. Die Novellen wurden inzwischen auch immer wieder geändert.

Eine Anekdote aus der Wendezeit?
EN: Die betrifft die Firma Wella: Herr Backmann vom Außendienst rief irgendwann einmal an und fragte, ob wir denn Ware bei ihnen kaufen würden und was er uns anbieten könnte. Ich meinte: Ja, ich hätte gern saure Dauerwelle, ca. 5000 Stück. Da schluckte er etwas, mit dieser Menge hatte er nicht gerechnet und wollte gleich mal in Darmstadt anrufen, ob das denn ginge. Und er fragte nach unserem Zahlungsziel? „Wie Zahlungsziel? Wenn die Ware kommt, wird bezahlt.“ (lacht).

Mit welchen Produkten haben Sie in der DDR gearbeitet?
EN:
Mit Londa. Und nach der Wende mit Wella und L`Oréal. Das waren Zeiten damals, was wurden wir hofiert bei dem Umsatz, den wir gemacht haben! Von Ägypten bis Mexiko, von einem Robinson Club in den nächsten, wir sind mit Wella und L’Oréal um die Welt gereist. Das gibt es heute gar nicht mehr. Und auch nicht mehr diese Riesenkongresse und Großveranstaltungen.

Sie waren über 25 Jahre Vorsitzender des Meisterprüfungsausschusses, haben in 40 Jahren 65 Meister auf ihrem Weg begleitet. DDR vs. BRD – gab es Unterschiede bei den Meisterprüfungsanforderungen?
EN:
In der fachlichen Schiene nicht, aber wir hatten in der DDR noch den sogenannten A-Anteil, in dem waren beispielsweise auch Wirtschaftspolitik und Steuer drin.

„Nach der Wende: jeder konnte seine Millionen verdienen
oder pleitegehen.“

Was waren die größten Herausforderungen nach dem Fall der Mauer?
EN:
Für mich gab es vor allem ein Problem: Wie bekomme ich 350 Mitarbeiter in die Marktwirtschaft? Denn eines war klar: Nach der Wende: jeder konnte seine Millionen verdienen oder pleitegehen.

Ein schwieriges Thema, ¾ der ostdeutschen Berufstätigen haben in den ersten Jahren nach der Wende ihren Job gewechselt oder gar verloren.
EN: Wir hatten hier in Brandenburg das größte Stahlwerk der DDR mit über 12.000 Beschäftigten, das wurde von der Treuhand auseinandergespalten. Das war wirklich tragisch.

Wie war es für Sie?
EN:
Ich war ein Gewinner der deutschen Einheit, das waren nicht viele. Von den 17 Genossenschaften im Land Brandenburg sind meines Wissens noch zwei am Markt, die anderen sind auseinandergebrochen, viele haben sich nach der Wiedervereinigung selbstständig gemacht.
Angefangen hatte ich 1959 in der PGH „Neue Linie“ mit 5 Filialen, zur Wende waren es dann 27 Geschäfte mit ca. 350 Mitarbeitern. Natürlich sind gleich nach der Wende einige ausgeschieden, manche haben sich selbstständig gemacht.

„Handwerk als individuelle Dienstleitung,
wird es auch weiterhin geben.“

Heute hat die „Neue Linie“ noch 10 Filialen mit über 70 Angestellten und mehreren Auszubildenden. Wenn Sie in die Zukunft blicken: Wie sehen Sie das Handwerk in den nächsten 5 Jahren?
EN:
Handwerk als individuelle Dienstleitung wird auch weiterhin bestehen. Die manuelle Leistung am Menschen wird, bei allem Fortschritt, bleiben. Friseure, Kosmetiker, Zahnärzte … wird es immer geben. Aber die Großunternehmen werden es schwer haben, Mitarbeiter an sich zu binden. Hier in der Stadt Brandenburg haben wir heute ca. 55 Salons mit ein oder zwei Mitarbeitern. Die „Neue Linie“ hat im Schnitt zehn Mitarbeiter; alle anderen Großen sind bereits weg. Die Frage also ist: Werden alle weiterhin davon leben können?

30 Wiedervereinigung, wenn Sie auf Ihr Leben zurückblicken, was denken Sie dann?
EN:
Ich stelle fest, ich habe es richtig gemacht, ich habe durch die Wende gewonnen.

Das sind großartige Schlussworte! Herr Nitze, ich danke Ihnen sehr für das herzerfrischende Gespräch. Genießen Sie den Ruhestand! Ich wünsche Ihnen alles Gute und weiterhin ein schönes Spiel!

Eberhard Nitze und einige seiner Stationen:

  • 1966 - 1991 Vorsitzender der PGH „Neue Linie“ in Brandenburg
  • 1974 -2000 Vorsitzender des Meisterprüfungsausschusses
  • 1991 – 2003 Geschäftsführer der „Neue Linie“ Friseur und Kosmetik GmbH
  • 1986 - 2007 ehrenamtlicher Vorstand der Handwerkskammer Potsdam
  • 2020 Auszeichnung: Diamantener Meisterbrief der Handwerkskammer Potsdam
  • Vorsitzender des Fachbeirates des Friseurhandwerks im Kammerbezirk Potsdam
  • Gründer und späterer Vorsitzender, heute Ehrenpräsident des Verbandes Deutscher Friseurunternehmen e.V. (VDF) (Organisation ehemaliger PGHs Ostdeutschlands  underfolgreiche Unternehmen aus den alten Bundesländern, Anm.)