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27.10.2017

Mikronisierung könnte die Branche retten – zum Vormarsch der kleinen Salons

Weshalb? Ganz einfach, sie macht junge Menschen gierig auf Handwerk, Möglichkeiten und unbändige Individualität. In Gesprächen mit Einzelnen versteht man weshalb...

Der Friseurmarkt ändert sich strukturell seit Jahren, die Mikronisierung von Betrieben, die Eröffnung von Ein-Mensch-Salons boomt wie nie. Der Zentralverband schätzt die Zahl der Kleinstunternehmen (Salons mit 0-2 Mitarbeitern) auf 25.000 – also ca. 30% des Friseurmarktes.

 

Motivation & Wünsche


„Ich wollte nie reich werden, aber glücklich“, erklärt mir Nicole Ofner aus Spittal. Mittwoch und Samstag ist geschlossen, da ist sie für ihren Mann da.
Selbstverwirklichung, selbst festgelegte Arbeitszeiten, um für Familie und Lebensgestaltung offen zu sein, eigene kreative Konzeptideen, eigener Herr/Frau sein, raus aus der Stadt, Werte verwirklichen, nur Services anbieten, die zu mir passen… Die Gründe sind vielfältig und extrem zeitgeistig.
Christina vom Frisierzimmer (frisierzimmer.net) hat in Seekirchen ihr eigenes, kleines Reich gegründet. „Ich wollte einfach arbeiten, wann ich will und einen Salon, der meine Werte wiederspiegelt“.

-> Sehnsüchte einer ganzen Generation, die kaum eine Branche so einfach macht, das sind Chancen!
 

Second Hand & Impressionen

Nichts mit klassischer Friseureinrichtung, die Spiegel aus dem Impressionen-Katalog, die Stühle von Ikea, die Rezeption vom Flohmarkt, den Waschbereich von Second-Hand-Webseiten oder als Einzelstücke beim Friseureinrichter gekauft. Nichts ist so individuell wie die kleinen Salons der EPUler. Kreativ, mal mit Weinbar, mal mit echten Gemäldekopien wie bei Angela Kurlykov in Hamburg. Seit ihrer Selbstständigkeit liebt sie die Freiheit ihren Salon so gestalten zu können, wie sie es koselig findet.

-> Kreativität und Ausdruck der Persönlichkeit ist als Stylist möglich und für viele junge Menschen erstrebenswert.
 

Kleine geile Markenwelten

Gesetzt wird auf Marken, die es nicht in mittelbarer Nähe gibt, Marken die durchaus hochpreisig sein dürfen und ein identifizierbares Konzept präsentieren. Nicole Ofner aus Spittal erklärt mir „Mein ökologischer Fußabdruck beschäftigt mich, das muss sich alles im Salon wiederfinden.“

Julia Radakovits nennt ihren Salon „The Tale“liebevoll Nischenparfümerie. Im Fokus stehen sorgfältig kuratierte Produkte mit Schwerpunkt auf innovative Duftkreationen. "Nach einigen Jahren in der Werbebranche, begann ich meine Haar- & Beauty-Ausbildung u.a. bei Sassoon. Meine Liebe zu Nischenprodukten war damals schon geweckt und mit meinem eigenen Laden habe ich nun die Möglichkeit alle Dinge, die ich schön finde, an einem Ort anzubieten", so Julia zu ihrem Nischen-Salonkonzept.

-> Individuelle Marken, danach werden die Messen abgesucht. Duft, ätherische Öle, Natur, ökologisch, unbekannt und ein geiles Packaging sind die Zauberworte.
 

Zukunftsdenken

Viele sind alleine glücklich, wieder andere überlegen sich nun doch einen Partner oder Stuhlmieter mitaufzunehmen „Zu zweit macht es halt noch mehr Spaß“ weiß Christina aus Seekirchen. Viele haben lange Wartezeiten, 5 Wochen sind‘s bei Sonja Krenmayer alias "Frau Schneider", da kommt man irgendwann in Versuchung größer zu werden.
 

Für wen richtig?


Für alle die sich selbst verwirklichen wollen und keine Angst vor vielen neuen Aufgaben haben, denn nicht zu unterschätzen sind Warenbestandshaltung, Buchhaltung, Fixkosten, da kommt schon einiges, fernab des Haareschneidens, auf einen zu.
 

Risikobereitschaft

Für viele, mit denen ich sprach, ist es ein Prozess, wie für Corinna Hörzer, die fast 10 Jahre als Stuhlmieterin gearbeitet hat und sich vor 4 Jahren in Guntramsdorf auf 25qm im Hinterhof niedergelassen hat. „Als Stuhlmieter hat man bereits erste Einblicke in die Selbstständigkeit und der nächste Schritt ist einfacher“.

-> Angestellt - Stuhlmiete – Salon – Mitarbeiter = Ein guter Weg für alle, die langsam ein Business aufbauen und sich nicht sofort übernehmen wollen. Gesundes Wachstum inklusive.
 

High Pricing & Wertigkeit

Der Preis scheint nie ein Thema, die meisten der EPUs, mit denen wir gesprochen haben, definieren ihren eigenen Wert und der liegt hoch. €60 für einen Haarschnitt auf dem Land? Mehrwertigkeit ist wichtig und Diskussionen über den Preis gab es bei den meisten noch nie.
Niki O., EPU aus Spittal, bringt es auf den Punkt: „Die Jungen werden wieder gierig auf dieses Handwerk, denn hier können sie sich verwirklichen und auch noch Geld verdienen!“
 

EPUs prägen die Zukunft maßgeblich mit

Menschen sehnen sich nach Geborgenheit, Persönlichem und Nähe. Friseure bieten genau das. Die unpersönliche Onlinewelt und unnahbare Shoppingzentren-Ästhetik irritieren zunehmend. Bei Ikea ist das Geschäft rückläufig, jetzt sind innerstädtische Standorte geplant. Ja, sogar Zalando eröffnet Läden. Die Relevanz des Kleinen und Persönlichen steigt und steigt.
 

Endlich machen, was man will

„Bei mir gibt es keine Trockenhaube, ich bin auf Farbe spezialisiert, bei mir gibt es kein Hochstecken, das mache ich nicht…“ Warum nicht? Alle Branchen spezialisieren sich, die Friseure eben auch.
 

Widerstand zwecklos

Nicht kontrollierbar und nur in die eigene Kasse! Ein Vorwurf ohne jede Beweise, den man freilich jedem Betrieb unterstellen könnte. Wenn jemand Geld unterschlagen möchte, dann ist das, ob groß oder klein, möglich und reine Charaktersache. Birgit Senger ist seit 4 Jahren in Ihrem Berliner Salon „Privé“ alleine und ärgert sich: „Es geht mir auf den Nerv, dass Innungen und Kammern permanent behaupten, man würde Steuern hinterziehen oder als Kleinstbetrieb zu denen zählen, die keine Steuern zahlen. Ich arbeite mit Onlineterminvergabe und auch Treatwell, da kann ich doch gar nichts machen, lege Termine komplett offen. Ich will doch ehrlich arbeiten. Das ist vollkommener Quatsch, niemand will mit Steuertricks rummachen.“
Es scheint, man könne sich das Glück im Kleinen nicht vorstellen.

-> Die junge Generation tickt genauso… Selbstverwirklichung ist das Mantra vieler.
 

Neue Ausbildungsformen

Ausbildung: Richtig, die Mikrobetriebe bilden in der Regel nicht aus, schöpfen allerdings auch nicht den Markt an Arbeitskräften ab.
Fakt ist: Die Anzahl der Lehrlinge, die sich für die Friseurausbildung entscheiden nimmt dramatisch ab. Nicht jedoch wegen mangelnder Anzahl an Ausbildungsbetrieben.
Das Duale System ist zu überdenken, Gründe „Image und Geld“. Da tun Mikrobetriebe den Großen doch eher einen Gefallen.
Für das Image tun die Mikrobetriebe verdammt viel, sie schaffen Begehrlichkeiten. EPUs sind häufig hochkonzeptionelle Salons, die Begehrlichkeiten wecken und der jungen Generation zeigen: Auch so kann es gehen! Wertige Arbeitsleistung in einem begehrenswerten Umfeld und die Chance, sein Leben selbst zu bestimmen.
Neue Ausbildungsformen müssen geschaffen werden und das heißt ein paar Schritte weg vom Dualen System hin zu Schulen, Kursen, Spezialisierung, so wie in England oder den USA – ohne unsere berühmten Qualitätsstandards zu verlieren.

-> Genau damit könnte sich das Problem im nächsten Jahrzehnt von selbst lösen.
 

Über den Salon hinaus

Und sie sind unterwegs und netzwerken, verknüpfen sich mit Gleichgesinnten und auch anderen Branchen wie Restaurantbesitzer, die Bobo-Distrikte in Großstädten können ein Lied davon singen. Im Sommer sitzen Ladenbesitzer weintrinkend vor ihren Geschäften.

–> gelebte Work-Life-Balance
 

Gelebte Kundenbindung

„Mit meinen Kunden verbindet mich persönliche Geschichten“ die Kunden lechzen nach Nähe, Service und einer Bindung. Da wird gemeinsam Wein getrunken und auch mal danach weggegangen.
25qm im Hinterhof - und meine Kunden sind vermehrt aus Wien - fahren um Ruhe zu genießen viele Kilometer. Denn auch Kunden schätzen die Ruhe in den Kleinbetrieben.

Langfristig, wer weiß das schon, einige werden untergehen, blutig auf die Nase fallen, andere werden wieder expandieren oder einfach bleiben was sie sind: Individuelle, kleine Salons, die ihren Inhaber und dessen Kunden glücklich machen. Und Glück ist erstrebenswert, z.B. für die kommende Generation.